Diskussion:Recht-Haben-(Wollen)
Verfasst: 19. November 2018, 12:24
Für Nach-Sokratiker. - Nichts ist dem Intellektuellen, der zu leisten
sich vornimmt, was früher Philosophie hieß, unangemessener, als in der
Diskussion, und fast möchte man sagen in der Beweisführung, recht
behalten zu wollen. Das Rechtbehaltenwollen selber, bis in seine
subtilste logische Reflexionsform hinein, ist Ausdruck jenes Geistes von
Selbsterhaltung, den aufzulösen das Anliegen von Philosophie gerade
ausmacht. Ich kannte einen, der alle Zelebritäten aus Erkenntnistheorie,
Natur- und Geisteswissenschaften der Reihe nach zu sich einlud, mit
jedem einzeln sein System durchdiskutierte und, nachdem keiner mehr
gegen dessen Formalismus ein Argument vorzubringen wagte, seine Sache
für schlechterdings wertbeständig hielt. Etwas von solcher Naivetät ist
überall dort noch am Werk, wo Philosophie auch nur von ferne dem Gestus
des Überzeugens ähnelt. Ihm liegt die Voraussetzung einer universitas
literarum zugrunde, eines apriorischen Einverständnisses der Geister,
die miteinander kommunizieren können, und damit schon der ganze
Konformismus. Wenn Philosophen, denen bekanntlich das Schweigen immer
schon schwer fiel, aufs Gespräch sich einlassen, so sollten sie so
reden, daß sie allemal unrecht behalten, aber auf eine Weise, die den
Gegner der Unwahrheit überführt. Es käme darauf an, Erkenntnisse zu
haben, die nicht etwa absolut richtig, hieb- und stichfest sind - solche
laufen unweigerlich auf die Tautologie hinaus-, sondern solche, denen
gegenüber die Frage nach der Richtigkeit sich selber richtet. - Damit
wird aber nicht Irrationalismus angestrebt, das Aufstellen
willkürlicher, durch den Offenbarungsglauben der Intuition
gerechtfertigter Thesen, sondern die Abschaffung des Unterschieds von
These und Argument. Dialektisch denken heißt, unter diesem Aspekt, daß
das Argument die Drastik der These gewinnen soll und die These die Fülle
ihres Grundes in sich enthalten. Alle Brückenbegriffe, alle Verbindungen
und logischen Hilfsoperationen, die nicht in der Sache selber sind, alle
sekundären und nicht mit der Erfahrung des Gegenstands gesättigten
Folgerungen müßten entfallen. In einem philosophischen Text sollten alle
Sätze gleich nahe zum Mittelpunkt stehen. Ohne daß Hegel das je
ausgesprochen hätte, legt sein ganzes Verfahren Zeugnis ab von dieser
Intention. Wie sie kein Erstes kennen möchte, so dürfte sie streng
genommen kein Zweites und kein Abgeleitetes kennen, und den Begriff der
Vermittlung hat sie gerade von den formalen Zwischenbestimmungen in die
Sachen selber verlegt und damit deren Unterschied von einem ihnen
äußerlichen, vermittelnden Denken überwinden wollen. Die Grenzen, die
dem Gelingen solcher Intention in der Hegelschen Philosophie gesetzt
bleiben, sind zugleich die Grenzen von deren Wahrheit, nämlich die Reste
der prima philosophia, der Supposition des Subjekts als eines trotz
allem »Ersten«. Zu den Aufgaben der dialektischen Logik gehört es, die
letzten Spuren des deduktiven Systems zusammen mit der letzten
advokatorischen Gebärde des Gedankens zu beseitigen.
(Adorno, Mimima Moralia)
sich vornimmt, was früher Philosophie hieß, unangemessener, als in der
Diskussion, und fast möchte man sagen in der Beweisführung, recht
behalten zu wollen. Das Rechtbehaltenwollen selber, bis in seine
subtilste logische Reflexionsform hinein, ist Ausdruck jenes Geistes von
Selbsterhaltung, den aufzulösen das Anliegen von Philosophie gerade
ausmacht. Ich kannte einen, der alle Zelebritäten aus Erkenntnistheorie,
Natur- und Geisteswissenschaften der Reihe nach zu sich einlud, mit
jedem einzeln sein System durchdiskutierte und, nachdem keiner mehr
gegen dessen Formalismus ein Argument vorzubringen wagte, seine Sache
für schlechterdings wertbeständig hielt. Etwas von solcher Naivetät ist
überall dort noch am Werk, wo Philosophie auch nur von ferne dem Gestus
des Überzeugens ähnelt. Ihm liegt die Voraussetzung einer universitas
literarum zugrunde, eines apriorischen Einverständnisses der Geister,
die miteinander kommunizieren können, und damit schon der ganze
Konformismus. Wenn Philosophen, denen bekanntlich das Schweigen immer
schon schwer fiel, aufs Gespräch sich einlassen, so sollten sie so
reden, daß sie allemal unrecht behalten, aber auf eine Weise, die den
Gegner der Unwahrheit überführt. Es käme darauf an, Erkenntnisse zu
haben, die nicht etwa absolut richtig, hieb- und stichfest sind - solche
laufen unweigerlich auf die Tautologie hinaus-, sondern solche, denen
gegenüber die Frage nach der Richtigkeit sich selber richtet. - Damit
wird aber nicht Irrationalismus angestrebt, das Aufstellen
willkürlicher, durch den Offenbarungsglauben der Intuition
gerechtfertigter Thesen, sondern die Abschaffung des Unterschieds von
These und Argument. Dialektisch denken heißt, unter diesem Aspekt, daß
das Argument die Drastik der These gewinnen soll und die These die Fülle
ihres Grundes in sich enthalten. Alle Brückenbegriffe, alle Verbindungen
und logischen Hilfsoperationen, die nicht in der Sache selber sind, alle
sekundären und nicht mit der Erfahrung des Gegenstands gesättigten
Folgerungen müßten entfallen. In einem philosophischen Text sollten alle
Sätze gleich nahe zum Mittelpunkt stehen. Ohne daß Hegel das je
ausgesprochen hätte, legt sein ganzes Verfahren Zeugnis ab von dieser
Intention. Wie sie kein Erstes kennen möchte, so dürfte sie streng
genommen kein Zweites und kein Abgeleitetes kennen, und den Begriff der
Vermittlung hat sie gerade von den formalen Zwischenbestimmungen in die
Sachen selber verlegt und damit deren Unterschied von einem ihnen
äußerlichen, vermittelnden Denken überwinden wollen. Die Grenzen, die
dem Gelingen solcher Intention in der Hegelschen Philosophie gesetzt
bleiben, sind zugleich die Grenzen von deren Wahrheit, nämlich die Reste
der prima philosophia, der Supposition des Subjekts als eines trotz
allem »Ersten«. Zu den Aufgaben der dialektischen Logik gehört es, die
letzten Spuren des deduktiven Systems zusammen mit der letzten
advokatorischen Gebärde des Gedankens zu beseitigen.
(Adorno, Mimima Moralia)